Vor der Pandemie unternahm ich als ehrenamtlicher Helfer in der Gruft acht Jahre lang insgesamt ca. 40 Wanderungen am Stadtrand von Wien mit Obdachlosen. Da gingen jedes Mal bis zu 15 Männer, gelegentlich auch Frauen mit, alle aus den Rändern der Gesellschaft. Primäre Ursachen ihrer Obdachlosigkeit waren: versagendes Elternhaus, Alkohol, Drogen, Scheidung, Unfälle, psychische Krankheiten. Manchmal begleitete mich ein Betreuer/eine Betreuerin, sehr oft meine Gattin. In den Gesprächen mit meinen Klienten wurde ich mit teilweise abenteuerlichen und skurrilen Lebensgeschichten und fallweise unvorstellbaren Lebensumständen konfrontiert. Ich war sehr froh, meistens nicht allein mit dieser psychischen Belastung des Zuhörens und Zusehens während unserer Wanderungen zu sein.
Einige Male ging Jeschua als Betreuer mit. Er war ein sehr interessanter Mensch und erzählte mir, dass er als Jude in Nazaret geboren wurde und seine Eltern Maria und Josef hießen, wobei er sich nicht sicher war, ob Josef sein biologischer Vater war. Sie ließen ihn Judaistik studieren, er übersiedelte dann nach Europa und befasste sich in weiteren Studien mit dem Christentum, insbesondere mit dem Katholizismus, dem Protestantismus, der orthodoxen Kirche und dem Islam, also mit allen monotheistischen Religionen. Schlussendlich ließ er sich taufen und wurde katholisch. Auf meine Frage, warum gerade katholisch, meinte er, weil es die größte christliche und eine globale Kirche mit einer 2.000 Jahre langen Vergangenheit sei und sich ihm die Möglichkeit bot, das Elend dieser Welt in Favelas in Brasilien, bei den Dalits in Indien und mit den Obdachlosen in Europa hautnah als Sozialarbeiter zu erleben und dabei zu helfen. Durch die Taufe wurde nämlich in ihm etwas Unvorstellbares geweckt. Es fühlte sich an, als ob Gott in ihm direkt wirken wolle und ihn zu einer Botschaft der Gottesliebe und der Nächstenliebe dränge. Seine Analyse des Glaubens und der Religiosität in unserer Gesellschaft war so beeindruckend, dass ich ihn einmal fragte, welche Vorstellung denn er von Gott habe. Da holte er aus und erklärte mir in wenigen, aber verständlichen Sätzen:
Lieber Wolfgang, zuerst einmal behaupte ich als Theologe nicht die Existenz von Gott, sondern suche ihn und versuche, aus Gesprächen, Berichten und Beobachtungen heraus ihn zu bekennen. Gott ist für mich ein transzendentes Wesen, von dem wir überhaupt nichts wissen können, weil wir Menschen keine Möglichkeit haben, jenseits unser Welt, also im sog. Transzendenten, irgendetwas zu beobachten und zu erfahren. Ich bin aber fest überzeugt, dass sich Gott in unserer Welt, also im Immanenten, durch drei Wirkungen bemerkbar macht, und zwar: Zum einen glaube ich, dass er unser Universum vor 13,8 Milliarden Jahren durch den sog. Urknall, mit dem unsere Zeit und unser Raum begann, initialisierte und dass daraus mit den Naturgesetzen und der physikalischen und biologischen Evolution unsere heutige Welt mit ihren Menschen entstand („Alles ist durch das Wort geworden“). Zum zweiten glaube ich, dass er vor 2.000 Jahren den Menschen mit ihren freien Willen durch einen ganz besonderen Menschen, nämlich Jesus, eine Botschaft der Liebe mit all ihren Facetten überbrachte, dieser Mensch für seine Botschaft am Kreuz starb und diese Botschaft spirituell unter uns weiterwirkt („Das Wort war Gott“). Zum Dritten glaube ich, dass Gottes Wirkung zwar nicht die von ihm geschaffenen Naturgesetze bricht - jedenfalls ist dies bisher nicht nachweisbar gewesen - , Gott aber sehr wohl versucht, metaphysisch auf Entscheidungen der Menschen einzuwirken („Im Wort war Leben und das Leben war das Licht der Menschen“). [Zitate aus Joh 1, 1-4]
Auf meinen Einwurf, was denn das mit der Trinität zu tun hat, sagte er: Das ist sie. Ein Gott in drei von uns Menschen erfahrbaren Wirkungen: Gott über uns, Gott unter uns, Gott in uns, erstmals so von Dag Hammarskjöld formuliert. Schon in der Tora steht: Du sollst dir kein Gottesbild machen (Ex 20,4). Gottesbilder führen zu falschen Gottesvorstellungen.
Dann fragte ich ihn, ob ein Mensch, der eine Botschaft Gottes überbringt, ein Sohn Gottes sein muss. Dazu meinte er: Vor 2.000 Jahren verstand man unter einem Sohn Gottes einen Menschen mit Eigenschaften gemäß der Vorstellung, die man sich damals von einem Gott gemacht hat, also mit anthropomorphen Eigenschaften. Natürlich hat ein Mensch, der eine Botschaft Gottes überbringt wie Jesus, ein einzigartiges Alleinstellungsmerkmal unter allen Menschen. Aber dass ein Gott am Kreuz stirbt, ist mir nicht vermittelbar.
Auf meine Frage, woher er diese seine Vorstellung von Gott hat, meinte er, dass sie aus den Evangelien folgt, wenn man die vier Evangelien mit ihren nachösterlichen Interpretationen, Narrativen und Wundergeschichten auf ihre theologischen, heute noch gültigen und vermittelbaren Aussagen reduziert. Daran siehst du, Wolfgang, wie wichtig ein Gottesverständnis ist, das mit dem bibel-, natur- und humanwissenschaftlichen Erkenntnisstand verträglich ist. Das impliziert, dass sich das Gottesverständnis verändern kann und muss. Und das impliziert auch, den angeblichen Willen Gottes nicht als eindeutig gegeben vorauszusetzen. Er kann nämlich nicht bis ins Letzte mit Sicherheit erkannt werden, sondern nur bis zu einem Punkt mit relativer Sicherheit und es muss dann, abhängig von der jeweiligen Situation, Raum für ein jeweils individuelles Erkennen geben. Der Theologe Jean Baptist Metz hat einmal gesagt: Heute wissen manche meiner Kollegen mehr über Gottes Willen als über die Absichten und Einstellungen ihrer nächsten Angehörigen.
Nach diesen Fragen und Antworten merkte ich schon, dass ich ihn mit Glaubensfragen in keinen Argumentationsnotstand bringen konnte. Deshalb verfolgte ich ab nun eine andere Spur und gab mich verwundert, dass er sich gerade der katholischen Kirche angeschlossen habe. Einer Kirche,
· die autokratisch geführt wird, keine Verfassung und dafür eine Zweiklassengesellschaft hat,
· die einem Klerikalismus huldigt und in der Laien kein Anhörungs- und Mitspracherecht in kirchlichen Entscheidungsprozessen haben,
· die Blut an ihren Händen hat, wenn ich an die Kreuzfahrer und die Inquisition denke,
· die an Diskriminierungen festhält, wenn ich an Frauen und Homosexuelle denke,
· der man mangelnde Wahrhaftigkeit nachsagen muss, wenn ich an Vertuschungen von Missbrauch, Umgehung des Zölibats, Homosexualität, Prunksucht und undurchsichtige Finanztransaktionen im Vatikan denke,
· die eine Glaubenslehre vertritt, welche mit dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand querliegt,
· die eine völlig verschrobene Sexualethik lehrt,
· die eine Liturgie vorschreibt, welche für viele Menschen keine Attraktivität mehr hat und teilweise unverständlich ist,
· die mangelnde Toleranz gegenüber Anderslebenden und Andersdenkenden übt, weil letztere nicht den „wahren“ Glauben oder gar keinen besitzen,
· und vieles mehr.
Jeschua wiederholte seine Antwort, die er mir schon einmal gegeben hat, und dann wurden seine Augen feucht, seine Stimme versagte ihm, er blieb stehen, damit wir nicht seine Tränen sehen könnten, ging mit anderen weiter und wandte sich deren Sorgen zu.
Ein anderes Mal kam er zu mir und sprach von sich aus wieder die Kirche an:
Wolfgang, das mit der Kirche hat mir sehr weh getan. Manches Mal wollte ich ja schon wieder austreten, aber sie bewahrt halt schon 2.000 Jahre das Evangelium und die Erinnerung an Jesus und hat viele Verdienste in der Vergangenheit und Gegenwart, vor allem in der Diakonie (Caritas) und in der Seelsorge. Aber ich bin mir sehr wohl bewusst, dass
· die wissenschaftliche Exegese der Bibel noch immer nicht ernst genommen wird,
· die mündliche Tradition leider offenbarungsähnliche Bedeutung hat,
· das biologisch-animalische Naturrecht ohne Berücksichtigung von humanwissenschaftlichen Erkenntnissen die Sexualethik bestimmt,
· in das Göttliche Recht durch Rechtsetzung alles eingebracht wurde, was sich mangels biblischer Grundlage nicht aus der Offenbarung ableiten ließ und im Interesse der Amtskirche war,
· der Katechismus dies alles widerspiegelt und vieles mehr, was keine biblische Grundlage hat,
· das Kirchenrecht den Glauben verrechtlicht, die Autokratie festschreibt und die Menschenrechte nicht berücksichtigt.
Es liegt für mich auf der Hand, dass diese Kirche nicht so von Gott gewollt ist. Sie ist ein Menschenwerk und wird es bleiben. Wenn Du mich fragst, wie es mit ihr weitergeht, habe ich natürlich keine Antwort. So wie Jesus nicht gewusst hat, ob er der Messias ist und ob und wann die Parusie kommt. Für mich steht fest, dass die Kirche auf zerbröselnden Fundamenten steht und gravierender Reformen bedarf, aber ein Schisma unbedingt vermieden werden muss. Warum? Weil wir schon genug Schismen gehabt haben und nichts besser geworden ist. Wir haben allein schon fünf Hauptgruppen von christlichen Kirchen, jede weitere Kirche ist wieder eine zu viel. Daher ist der einzige Weg eine Reform von innen. Dazu fand ich im Buch „Wahre und falsche Reform in der Kirche“ (1950) des Dominikaners Yves Congar einen interessanten Ansatz. Er schreibt: „(Unsere) konkrete Kirche muss man zugleich akzeptieren wie sie ist und darf sie nicht akzeptieren, wie sie ist. Wenn man sie nicht akzeptiert, wird man eine andere als diese machen […], und man wird sie nicht reformieren. Wenn man sie akzeptiert, wie sie ist, wird man nichts ändern und sie ebenso wenig reformieren. Man darf die Kirche nicht ändern und man muss etwas in ihr verändern. Man darf keine andere Kirche machen, und man muss eine Kirche machen, die bis zu einem Grad anders ist…“ Papst Franziskus übernahm den letzten unterstrichenen Satz und verwendete ihn wörtlich bei der Ansprache zur Eröffnung der Synode am 9. Oktober 2021. Hinter diesem Ansatz steht für mich der Gedanke der Sakramentalität der Kirche. Die Kirche ist und hat nicht nur eine Organisation, sondern hat auch eine spirituelle Bedeutung: Sie ist einerseits das Volk Gottes mit gleicher Würde und Berufung aller Mitglieder, andererseits das Ursakrament, nämlich Hilfe und Unterstützung auf unserem Weg zu Gott. Die Notwendigkeit einer ständigen Reform darf nicht auf Kosten der Einheit gehen, aber die Einheit kann es nicht ohne ständige Reform geben.
Dann holte Jeschua weiter aus: Wie diese Reform gehen soll, weiß ich nicht. Was uns aber in den Gemeinden und anderen katholischen Sozialräumen weiterbringen wird, so meine ich, ist:
· ein Bekenntnis zu einer Verkündigung, die der Botschaft Jesu entspricht, mit allen Konsequenzen hinsichtlich Nichtakzeptanz des Katechismus, auf der Basis eines sorgfältig gebildeten Gewissens,
· ein freiere Gestaltung auf der Ebene der Liturgie, die den Glauben und die Sakramente wieder erfahrbar macht, und das entweder mit oder ohne geweihte Priester,
· die Übung in der Nächstenliebe, vor allem in der Diakonie/Caritas,
· die Hoffnung auf die Wirkmacht Gottes in allen Menschen (die Kirche nennt das den Hl. Geist) und unbedingtes Vertrauen in Gott.
Es liegt an uns, mit der Reform der Kirche in der Kirche zu beginnen, indem wir die Freiheit, die wir als Christen haben, sinnlose oder sinnwidrige und den Mizwot ähnliche Regeln zu überwinden, auch nutzen. Congar nennt in seinem Buch vier Bedingungen für den Prozess einer wahren Reform:
· den Primat der Barmherzigkeit und Pastoral im Umgang miteinander,
· das Verbleiben in der Communio mit allen,
· viel Geduld trotz aller Spannungen und
· die Unterscheidung von bloß „mechanischen“ Adaptionen (Anpassungen, die nur Schönheitsreparaturen sind) und Reformen, die zwar die Kirche wesentlich verändern, aber aus ihr keine andere Kirche machen.
Mir ist schon klar, dass die Fundamente der Kirche noch einige Zeit dahinbröseln werden, aber lassen wir uns überraschen, was dann kommt. Für Christen stirbt die Hoffnung nie.
Am Schluss unserer Wanderungen durfte ich regelmäßig meine Klienten zu einem Mittagessen einladen. Für meine Gattin und mich war es jedes Mal ein kleines Wunder, wieviel in ihre hungrigen Mägen hineinging, und was nicht mehr hineinging, wurde nach Hause mitgenommen. Kein einziges Mal waren beim Abservieren noch Speisereste am Teller. Wenn Jeschua dabei war, segnete er unser Essen uns sagte: Lasst uns einen Moment innehalten und Gott danken dafür, dass wir unseren Hunger stillen können. Bei unserer letzten Wanderung vor der Pandemie war er auch dabei und erwähnte vor dem Essen, dass er heute das letzte Mal mitgegangen sei, da er seine nächste Stelle als Sozialarbeiter in Indien antreten werde. Er bat uns, ihn nicht zu vergessen und segnete dann das Brot.
Vor kurzem besuchte ich wieder einmal die Gruft. Meine Obdachlosen waren rettungslos verstreut und nicht mehr erreichbar. Auf meine Frage, wo denn Jeschua sein, sagte mir die Leiterin, dass er sich zum Sanitäterdienst in der Ukraine gemeldet hat, bei der Versorgung eines verletzten Russen angeschossen wurde und verstarb. Wer es war und warum es geschah, weiß niemand. Sein Leichnam konnte nicht gefunden und geborgen werden.
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